Wir Menschen mit ADHS wirken in unserem Verhalten oft paradox. Was wir tun ist scheinbar unlogisch, ebenso, was wir nicht tun. Mal läuft es wunderbar, mal überhaupt nicht.
Es sieht manchmal aus, als würden wir uns einfach keine Mühe geben oder sogar absichtlich vergessen, Wichtiges zu erledigen. Wie sehr wir uns tatsächlich anstrengen, bleibt oft unsichtbar.
Ob unser ADHS Verhalten eine Stärke oder eine Herausforderung, Schwäche, Einschränkung oder gar Behinderung ist, hängt oft von der Situation oder vom Umfeld ab.
In diesem Post zeige ich dir, wie du scheinbar paradoxes oder unlogisches ADHS Verhalten verstehst und dir aus den dazugehörigen Stärken und Herausforderungen einen Reim machst.
Vieles wird dir plötzlich Sinn machen, ob du selbst betroffen bist oder jemand in deinem Umfeld. Dieses Wissen wird deine Beziehungen vereinfachen und entlasten.
Und natürlich passt nicht alles auf jede Person und ich will hier auch keine Stereotypen und Stigmata befördern, sondern Verständnis wecken für die wundervolle Komplexität von uns Menschen mit ADHS.
Das paradoxe Verhalten bei ADHS verwirrt - uns selbst und unser Umfeld
Das ADHS Paradox zu verstehen, hilft enorm. Sowohl uns Betroffenen wie auch unseren Liebsten, Arbeitgebenden, Kolleginnen und Kollegen und auch den Fachpersonen, mit denen wir zu tun haben.
In diesem Post möchte ich erklären, was hinter unserem scheinbar unlogischen Verhalten steckt. Ich hoffe, dass er hilft, mehr Verständnis zu wecken und dass du ihn teilen magst mit Menschen, die dich besser verstehen wollen.
Wir können niemanden zwingen, sich in unser ADHS Gehirn hineinzudenken. Doch wer gewillt ist, die ADHS Brille aufzusetzen, gewinnt auch selbst, denn durch das Verständnis verbessern sich die Beziehungen meist drastisch.
Wir ADHS Betroffenen strengen uns echt an, auch wenn man es oft nicht sieht - bitte geht von einer guten Absicht aus
Wie viel Mühe wir uns geben und wie unglaublich anstrengend vieles für uns ist, bleibt oft unsichtbar. Schmerzhaft ist auch, dass uns oft sehr wohl bewusst ist, dass wir für andere echt anstrengend sein können.
Wir sind oft unsere härtesten Kritiker und in der Folge hyperempfindlich auf vermeintliche Kritik von anderen, besonders unseren Liebsten. Es ist ein unglaubliches Geschenk, wenn uns jemand grundsätzlich eine gute Absicht unterstellt. Das entlastet enorm. Auf Englisch sagt man "always assume positive intent".
Natürlich gibt es Ausnahmen, wo wir blinde Flecken haben. Diese lassen sich beispielsweise wunderbar im Coaching angehen - das klappt viel besser, als wenn "Kritik" von den Liebsten kommt.
Doch grundsätzlich gilt: weniger Druck, weniger Stress, weniger Kritik führt zu mehr Lebensenergie und Motivation, sich den eigenen Herausforderungen zu stellen.
Konsistenz gibt es nicht, denn Menschen mit ADHS sind konsequent inkonsequent
Was an einem Tag wie am Schnürchen klappt, bleibt am nächsten Tag unerledigt. Selbst wenn wir eine für uns passende Routine etabliert haben. Selbst wenn wir die Sache wirklich wirklich wirklich erledigen wollen.
Was uns ab und zu ein Bein stellt und inkonsequent sein lässt:
unsere Ablenkbarkeit
unsere Impulsivität
unser oftmals miserables Arbeitsgedächtnis
unsere obsessive Konzentration auf irgendetwas, was uns grad komplett reingezogen hat (auch positiver Hyperfokus genannt)
unser unzuverlässiges Zeitgefühl
unsere allgemeine Verpeiltheit
unsere innere Unruhe, die uns von einer Sache zur nächsten springen lässt wie ein durchgeknallter Duracell-Hase
Ab und zu haut es uns also wieder aus der Bahn. Wir wissen auch nicht, wann das passieren wird. Und das nervt uns mindestens genauso sehr wie unser Umfeld. Es erwischt uns auch immer wieder kalt, wenn wir überzeugt waren, dass diese Gewohnheit jetzt wirklich konsistent funktionieren wird. Na denkste.
Zu verpeilt, ein Formular korrekt auszufüllen...
Vermeintlich einfache Aufgaben wirken für uns unüberwindbar, während wir für die komplexesten Probleme kreative Lösungen finden.
Ein Formular kann uns in komplette Panik versetzen. Ich kann nicht zählen, wie oft ich meine Postleitzahl nicht mehr abrufen konnte. Oder mir plötzlich eine uralte Adresse einfiel, aber nicht meine aktuelle. Wie ich statt der Nummer meines Bankkontos meine Matrikelnummer meines schon Jahre zurückliegenden Studiums angegeben habe. Die ich nicht hätte bewusst abrufen können. Ich habe über die Jahrzehnte Unsummen an Spesen von Arbeitgebern und Freiwilligeneinsätzen nicht zurückgefordert, weil ich irgendwo im Prozess stecken blieb.
Ich könnte Seiten mit weiteren eigenen Beispielen und solchen von Kundinnen und Kunden füllen, was ich nicht tun werde. Denn es ist (mir und uns) echt peinlich. So viel zum Thema "du bist so intelligent, wie kannst du nur so blöd sein".
Dafür denken wir so vernetzt, vorausschauend und innovativ, dass wir viele überfordern
Menschen mit ADHS sind oft überdurchschnittlich kreativ (was auch wissenschaftlich belegt ist) und denken divergent und sehen Lösungen und Zusammenhänge, die andere nicht erkennen und würdigen können.
Auch kenne ich unzählige Beispiele von Kundinnen und Kunden, die so vorausschauend denken, dass sie laufend zukünftige Hindernisse aus dem Weg räumen, bevor sie zum Problem werden. Wenn die Person nicht die Werbetrommel rührt, bleibt ihr Einsatz oft unsichtbar und wird nicht ausreichend wertgeschätzt.
Schlimmer ist es bei Angestellten, die Zusammenhänge und zukünftige Probleme oder Lösungen glasklar erkennen, aber nicht den Einfluss haben, dass diese angegangen oder schon nur gehört werden. Es ist unglaublich frustrierend, vorauszusehen, wie etwas ablaufen wird und nichts positiv beeinflussen zu können, beispielsweise in einer entfernten Abteilung.
Ich habe mich früher nur halb scherzend als "Kompetenzüberschreiterin" bezeichnet. Da wir mit ADHS oft nicht die diplomatischsten Menschen sind (mehr dazu unten), sind wir oft nicht ausreichend geschickt, unsere Einsichten auf verträgliche Art der einflussreichen Person zu kommunizieren. Oder es gelingt uns, wir erhalten aber keinerlei Wertschätzung für eine strategisch immens wertvolle Einsicht oder Lösung.
Der Weitblick hat also nicht nur Vorteile. Vor allem Vorgesetzte, denen eben dieser Weitblick fehlt und die in ihrer Persönlichkeit nicht sehr gefestigt sind, fühlen sich von ADHS Mitarbeitenden oft bedroht oder überfordert, mit teils üblen Konsequenzen.
Viele Menschen mit ADHS haben überdurchschnittlich viele Jobwechsel in ihrem Lebenslauf. Und wie es so schön heisst, man verlässt nicht Jobs, man verlässt Vorgesetzte. Ich habe keine wissenschaftliche Statistik, aber die Erfahrungswerte aus meinem Coaching zeigen: die Passung zwischen Menschen mit ADHS und deren Vorgesetzen ist matchentscheidend.
Undiplomatisch, dafür integer, mit hohem Sinn für Gerechtigkeit
Manchmal wäre es wirklich besser, wir hätten einen Filter. Also einen zwischen unseren Gedanken und dem, was aus uns herausplatzt.
Vielen von uns fehlt der Sinn für Diplomatie und jegliches politische Geschick. Besonders, wenn wir der Ansicht sind, dass Unrecht getan wird - besonders jemand anderem.
Dann stehen wir oft für die Schwächeren, Benachteiligten, ungerecht Behandelten ein, koste es, was es wolle. Das hat Vor- und Nachteile und ist schon einigen von uns teuer zu stehen gekommen. Dafür können viele von uns in den Spiegel schauen, wissend, dass wir nicht schweigend (oder gar billigend) zugesehen haben.
Hochsensibel, überempfindlich oder Empathie-Superheld*Innen
Einige von uns sind hochsensibel - in den verschiedensten Bereichen (ich werde in einem anderen Post darauf näher eingehen).
Und wenn wir ehrlich sind, wissen wir auch, dass wir oftmals überempfindlich reagieren, besonders auf vermeintliche Kritik oder Zurückweisung. Wenn wir viel Scham haben, können wir zwischenzeitlich fast kritikunfähig sein.
Andererseits sind viele von uns Empathie-Superheldinnen oder -helden, haben einen aussergewöhnlichen Draht zu Tieren, merken sofort, wenn die Stimmung "komisch" ist in einer Gruppe oder bei einer Person und können unglaublich treffend auf jemanden eingehen und andere Menschen passend unterstützen.
Doch gefühlskalte oder gefühlsblinde Menschen mit ADHS gibt es auch und nicht wenige
Der Anteil von Menschen mit ADHS, die Gefühle kaum, schwer oder unzureichend erkennen, benennen und ausdrücken können, ist laut Studien deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Das führt zu weitreichenden Problemen für die betroffene Person wie auch ihr Umfeld. Auch darauf werde ich in einem separaten Post eingehen.
Wir machen die Mücke zum Elefanten, sind aber erstklassige Krisenmanager
Ob wir unsere Gefühle sehr stark wahrnehmen oder eben kaum, eines scheint gleich zu bleiben: wir Menschen mit ADHS machen oft aus einer Mücke einen Elefanten. Impulsivität und emotionale Dysregulation sind vermutlich die Ursachen. Irgendein Detail kann zu einem Riesendrama werden und uns wie Zweijährige wirken lassen.
Aber wenn die Sch***** dann mal so richtig am Dampfen ist, sind viele von uns effektive Krisenmanager. Und zwar auch die, die bei einer Kleinigkeit abgehen können. Vermutlich ist eine akute Krise für unser Gehirn so spannend, dass wir uns plötzlich konzentrieren können und unsere ganze kreative Kraft und unser vernetztes Denken auf den Boden bekommen.
Ich kenne keine wissenschaftliche Statistik, sondern nur Erfahrungswerte, doch scheint der Anteil von Menschen mit ADHS in den Blaulichtorganisationen und den hektischen medizinischen Spezialisierungen Notfallmedizin und Intensivmedizin sowie bei Selbständigen und Gründern besonders hoch zu sein.
Teils sind wir völlig unflexibel, oder wir wollen uns nicht festlegen oder wir sind voll (oder zu?) anpassungsfähig
Das Thema Flexibilität bei ADHS ist derart komplex, dass ich es trotz aller Erfahrung schwer beschreiben kann.
Viele Menschen mit ADHS - vom Kind bis zum Erwachsenen - zeigen unflexibles oder rigides Verhalten, wie man es Menschen auf dem Autismus Spektrum zuschreibt. Die kleinste von aussen verursachte oder "aufgezwungene" Planänderung kann zum Drama werden. Bei Kindern kann man dies oft entschärfen durch Vorbereitung etc., aber bei Erwachsenen fehlt oft die Selbstwahrnehmung der eigenen Inflexibilität.
Dieselbe Person, die bei einer "aufgezwungenen" Planänderung austickt, kann gleichzeitig vom Umfeld volle Flexibilität fordern, indem sie sich nicht festlegt, um sich alle Optionen offen zu halten und selbst Pläne im allerletzten Moment ändert. Dies oftmals ohne jegliches Bewusstsein, dass diese zwei entgegengesetzten Standards für das Gegenüber keinen Sinn machen.
Auf der anderen Seite gibt es Menschen mit ADHS, deren "nicht ins Schema passen" als Kinder oder Jugendliche derart sanktioniert wurde (teils mit bester Absicht des Umfelds), dass sie gelernt haben, sich wie ein Chamäleon an jede Situation anzupassen. Das kann gewisse Vorteile haben, kann aber auch die eigene Gesundheit gefährden, wenn wir nicht mehr spüren, was wir brauchen und wollen. Hier kann je nach Ausmass ADHS Coaching helfen oder es braucht die Unterstützung einer auf ADHS spezialisierten therapeutischen Fachperson.
vielfältige Stärken, vielfältige Einschränkungen
Hast du dich oder deine Liebsten immer mal wiedererkannt in den obigen Beschreibungen? Oder hast du dich über meine Darstellung geärgert? Fühlst du dich verstanden oder missverstanden?
Mir ist sehr bewusst, dass ADHS ganz viele Gesichter hat und dass jedes Individuum eben individuell ist, mit oder ADHS. Ich möchte auch niemanden in eine Schublade stecken - das passiert zu oft und richtet Schaden an.
Doch ich hoffe, dass die Auflistung häufiger ADHS Verhaltensmuster hilft, Menschen mit ADHS besser zu verstehen und somit unsere Beziehungen erleichtert und entlastet. Dass wir unsere Stärken erkennen und mit unseren Herausforderungen, Einschränkungen oder Schwächen einen guten Umgang zu finden.
Selbstakzeptanz ist wichtig, ebenso wie Empathie für unser Gegenüber (mit oder ohne ADHS).
Wenn ADHSler sozusagen auf Linux laufen und Neurotypische auf Windows oder macOS, gibt das immer wieder Schnittstellenprobleme. Je besser wir die erkennen und aktiv angehen, desto reibungsloser läuft die Interaktion.
Welche Besonderheiten hast du erkannt - bei dir oder bei den Menschen mit ADHS in deinem Leben und wie willst du zukünftig mit ihnen umgehen? Was nimmst du mit?
Lust auf mehr Information?
Hier gibts mehr Info, welche Skills dir helfen, mit ADHS gleichzeitig anpassungsfähig und authentisch zu bleiben und so möglichst viel Handlungsspielraum zu haben. In diesem Post geht es um ADHS und Kreativität - einer unserer echten Superkräfte. Dieser Post hilft dir beim Umgang mit den oft komplexen Gefühlen, mit der Emotionsregulation. Und dieser Post hilft, mit dem inneren Kritiker und unserer Scham bei ADHS besser umzugehen, hier geht es um mehr Selbstakzeptanz und hier erfährst du, wie du deine toxischen Selbstgespräche stoppst und liebevoller mit dir umgehst. Scham hält dich oft davon ab, dir die notwendige Unterstützung zu holen und deine ADHS Ausraster belasten möglicherweise deine Beziehungen - praktische Tipps findest du im Post.
Referenzen:
Updated European Consensus Statement on diagnosis and treatment of adult ADHD. Kooij JJS et al. Eur Psychiatry. 2019 doi: 10.1016/j.eurpsy.2018 Link zur Publikation
Adult attention deficit hyperactivity disorder and early maladaptive schemas. Kiraz S, Sertçelik S.Clin Psychol Psychother. 2021 doi: 10.1002/cpp.2569 Link zur Publikation
Creativity and ADHD: A review of behavioral studies, the effect of psychostimulants and neural underpinnings. Hoogman M, Stolte M, Baas M, Kroesbergen E.Neurosci Biobehav Rev. 2020 doi: 10.1016/j.neubiorev.2020.09.029 Link zur Publikation
The Relationship Between Alexithymia and Impulsiveness in Adult Attention Deficit and Hyperactivity Disorder. Kiraz S, Sertçelik S, Erdoğan Taycan S.Turk Psikiyatri Derg. 2021 Link zur Publikation
Emotion dysregulation in attention deficit hyperactivity disorder. Shaw P, Stringaris A, Nigg J, Leibenluft E.Am J Psychiatry. 2014 doi: 10.1176/appi.ajp.2013.13070966 Link zur Publikation
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